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Medizintechnik der Zukunft Medizintechnik-Innovationen: neu, neuer – Medtech

Autor Kathrin Schäfer |

Sagenhafte 13.795 europäische Patente hat die Medizintechnik 2018 eingereicht. Damit ist sie die innovativste Branche überhaupt. Welche wegweisenden Medizinprodukte bringt sie hervor?

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Nirgendwo werden so viele Patente angemeldet wie in der Medizintechnik. Innovative Medizinprodukte belegen, wie viel Erfinder- und Pioniergeist in der Medtech-Branche herrscht.
Nirgendwo werden so viele Patente angemeldet wie in der Medizintechnik. Innovative Medizinprodukte belegen, wie viel Erfinder- und Pioniergeist in der Medtech-Branche herrscht.
(Bild: ©natali_mis - stock.adobe.com)

Was die Zahl der Anmeldungen beim Europäischen Patentamt in München angeht, hat die Medizintechnik seit Jahren die Nase vorne. 2018 lag sie sogar noch deutlich vor Bereichen wie Digitale Kommunikation oder Computertechnik. Überraschend sind die Zahlen kaum, wenn man bedenkt, dass die Medizintechnikbranche im Schnitt neun Prozent ihres Umsatzes in Forschung und Entwicklung steckt – und das bereits seit vielen Jahren. Dennoch ist ihre Innovationskraft für die Allgemeinheit weit weniger offenkundig als die von anderen Branchen wie eben der Digitalen Kommunikation.

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Dies liegt vermutlich daran, dass ihr Fortschritt nicht jedermann betrifft, sondern nur diejenigen, die mit ihr zu tun haben: Ärzte und medizinisches Personal, die tagtäglich mit Medizintechnik und Medizinprodukten arbeiten. Patienten, die Medizinprodukte tragen oder mit ihnen in Berührung kommen. Hinzu kommt: 3D-gedruckte Implantate oder digitale Prothesen bringen zwar große Erleichterung für ihre Träger, doch naturgemäß dürfte ihr Nutzwert im Vordergrund stehen. Die Faszination für ihre Technologie ist dabei zweitrangig. Für die Allgemeinheit jedenfalls werden sie weit weniger spannend sein als beispielsweise ein neues iPhone – oder ein Auto, das autonom fährt. Für Branchenmitglieder sind sie es umso mehr.

Auf welchen Themenfeldern finden derzeit die meisten Medtech-Innovationen statt? Als Wirtschaftsverband mit rund 200 Mitgliedern vertritt der Bundesverband Medizintechnologie die Interessen der Medizintechnik. Zu den Mitgliedsunternehmen gehört das Who ist who der Branche: Aesculap, B. Braun, Abbott, Carl Zeiss Meditec, Fresenius, Johnson & Johnson und viele mehr. Deshalb kann man in der Regel davon ausgehen: Die Themen, die den BV-Med beschäftigen, sind für die gesamte Branche relevant. Und zwar nicht nur, wenn es um Regulatorisches wie aktuell die EU-Medizinprodukteverordnung geht.

Medizintechnik – nicht weniger spannend als das neue iPhone

Mit Blick auf das Thema Innovationen ist deshalb bemerkenswert, dass der Verband zum 1. Juni ein neues Referat „Digitale Medizin“ ins Leben gerufen hat. Vor wenigen Tagen nun hat er auch einen neuen Fachbereich „Robotik in der medizinischen Versorgung“ gegründet. Doch Digitalisierung und Robotik sind längst nicht die einzigen Themen, die die Branche momentan um- und vorantreiben.

So wird das Thema Robotik dort besonders spannend, wo es sich mit einem weiteren Zukunftsthema, nämlich dem 3D-Druck verbindet: Für die Tumortherapie der Zukunft entwickeln derzeit fünf internationale Forscherteams einen Roboter. Obwohl dieser aus Dutzenden von Komponenten, Gelenken und Aktoren mit unterschiedlichen Materialeigenschaften besteht, lässt er sich mit einem 3D-Drucker in einem einzigen Prozessschritt herstellen: Ein Knopfdruck genügt, den Rest erledigt der 3D-Drucker selbsttätig. Schicht für Schicht entsteht ein Medizinroboter. Wenn die Entwicklung abgeschlossen ist, soll der Roboter Ärzte bei der Entnahme von Gewebeproben und bei der Thermischen Tumorbehandlung unterstützen. „Die Herausforderung des Projekts lag darin, ein Design zu entwickeln, das sich mit einem Poly-Jet-Drucker in einem einzigen Schritt fertigen lässt, gleichzeitig aber aus voll funktionsfähigen Komponenten besteht – beispielsweise Drehgelenken mit Hydraulikaktuatoren und einem Antrieb für den Nadelvorschub. All diese Komponenten haben unterschiedliche Materialeigenschaften“, erläutert Marius Siegfarth von der Projektgruppe für Automatisierung in der Medizin und Biotechnologie (PAMB) des Fraunhofer IPA an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Am Institut national des sciences appliquées de Strasbourg, INSA, wo das Projekt mit dem Namen Spirits koordiniert wird, druckt der Poly-Jet bereits die ersten Prototypen. Der erste vollständig gedruckte Medizinroboter soll noch 2019 an Dummys getestet werden.

Spannend wird es, wo sich Robotik mit 3D-Druck verbindet

Bleiben wir beim 3D-Druck: Bereits sieben Menschen konnten die Gefäßmediziner am Universitätsklinikum Leipzig dank eines Gefäßmodells aus dem 3D-Drucker helfen und damit sogar deren Leben retten. Denn ein individuell erstelltes Kunststoffmodell hilft den Ärzten, bei einer lebensgefährlichen Aussackung der Aorta eine genau passende Prothese zu erstellen und zu implantieren. Das dabei genutzte einzigartige Verfahren wurde von einer Forschergruppe am Leipziger Universitätsklinikum entwickelt und nun erfolgreich in der Praxis angewendet.

Grundlage dafür war die von UKL-Ärzten und Wissenschaftlern gemeinsam mit dem Fraunhofer IWU entwickelte Technologieplattform „Next3D“. Diese Plattform beinhaltet eine softwaregestützte Prozesskette, die medizinisches Bildmaterial auswertet und in dreidimensionale Druckvorlagen überträgt. Das erste am UKL entwickelte Produkt war ein individuell passendes System für neurochirurgische Eingriffe, ein sogenannter Steroetaxie-Rahmen. Mit Hilfe dieses Geräts werden Elektroden hochpräzise im Gehirn platziert. Für die Forscher lagen die weiteren Anwendungsmöglichkeiten der Methode auf der Hand: Mit dem neuen Verfahren können die Leipziger Gefäßmediziner jetzt innerhalb von 24 Stunden ein individuelles Gefäßmodell aus Kunststoff mit dem 3D-Drucker herstellen. Bereits sieben Mal kam die neue Methode in den letzten zehn Monaten bei Hochrisikopatienten, für die keine andere Behandlungsoption mehr bestand, zum Einsatz. Allen Patienten geht es heute gut. Die Leipziger Methode ist einmalig, ein Patent ist bereits angemeldet. Im Juni wurde das Projekt zudem beim 15. IQ Innovationspreis Mitteldeutschland mit dem Preis der Stadt Leipzig ausgezeichnet.

Digitalisierung ist aktuell neben Robotik und 3D-Druck das Thema im Gesundheitswesen – und damit in der Medizintechnik. Erst am 10. Juli hat das Bundeskabinett das Digitale-Versorgung-Gesetz (DVG) beschlossen. Es soll im Januar 2020 in Kraft treten. Apps auf Rezept, interessante Angebote zu Online-Sprechstunden und überall bei Behandlungen die Möglichkeit, auf das sichere Datennetz im Gesundheitswesen zuzugreifen – all das soll das „Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation“ möglich machen. Was ist Stand heute schon möglich?

Move ECG ist die erste analoge Uhr mit EKG-Funktion

Withings, die ehemalige Nokia Health, hat erst kürzlich bekanntgegeben, dass die Uhr für Aktivitätstracking Move ECG ab sofort auch in Deutschland erhältlich ist. Move ECG hat eine CE-Zulassung und ist angeblich die weltweit erste analoge Uhr mit der Fähigkeit, bei Bedarf ein EKG aufzuzeichnen und damit Herzerkrankungen wie Vorhofflimmern frühzeitig erkennen zu können.

Algorithmen ermöglichen die automatische und sofortige Analyse der EKG-Aufzeichnungen. Die Uhr kann bei Verdacht auf Vorhofflimmern eine Warnung ausgeben, sodass der Benutzer einen Kardiologen aufsuchen kann. Zusätzlich finden Nutzer in der Health-Mate-App eine detaillierte Darstellung ihres langfristigen Herzfrequenztrends und ihre EKG-Aufzeichnung.

Herz und Nieren kann man künftig per App prüfen

Smart ist nicht nur diese Uhr, mit der ein Alltagsgegenstand aus dem Konsumbereich zum Medizinprodukt wird, indem Vitaldaten- und funktionen überwacht werden. Die in Berlin ansässige Boca Healthcare GmbH hat ein Messgerät entwickelt, das ähnlich wie ein Dialyseapparat den elektrischen Widerstand im Körper ermittelt, der von Körperflüssigkeiten abhängig ist. Das System erlaubt es, unkompliziert den Hydratations- und Ernährungszustand der Patienten zu messen und währenddessen das Herzschlagvolumen und den systemischen Gefäßwiderstand zu bestimmen. Die Lösung umfasst dabei sowohl eine komplett neu entwickelte Hardware als auch eine Software, die das Gerät in Verbindung mit einer App smart macht. Eine künstliche Intelligenz, die auf Maschinellem Lernen basiert, ermöglicht der App potenziell gefährliche Zustände zu antizipieren. Um die Fertigstellung der ersten marktreifen Version des Produkts und die CE-Zertifizierung zu gewährleisten, führt Boca Healthcare auf der auf Gesundheitsunternehmen spezialisierten Crowdinvesting-Plattform aescuvest.de eine Finanzierungsrunde durch.

Augenuntersuchung per Smartphone erkennt Schädigungen

In vielen Entwicklungs- und Schwellenländern sind finanzielle Ressoucen knapp und die Anzahl an Augenärzten unzureichend. Demgegenüber sind Smartphones mittlerweile weltweit verfügbar, mit guten Kameraeigenschaften und intuitiver Bedienung. Forscher der Universitäts-Augenklinik Bonn haben daher in Süd-Indien erprobt, ob eine Augenhintergrund-Untersuchung mit der Smartphone-Kamera die Erkennung von diabetesbedingter Retinopathie ermöglicht – mit Erfolg. „Die Digitalisierung wird in Zukunft viele Probleme lösen“, ist Professor Dr. med. Claus Cursiefen, Präsident der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG)überzeugt.

Herz und Nieren kann man künftig per App prüfen

Und dies gilt nicht nur für Menschen mit Sehbehinderung: Cochlear, ein Anbieter von Hörimplantaten, und der Hörgeräte-Hersteller GN Hearing wurden Anfang September mit dem UX Design Award 2019 geehrt. Mit der Auszeichnung prämierte die Jury des internationalen Awards die bimodale Hörversorgung aus Cochlea-Implantat- und Hörgerät. Die Kombination beider ermöglicht erstmals direktes, beidseitiges Soundstreaming vom iOS-Mobilgerät auf ein mit CI elektrisch stimuliertes und auf ein mit Hörgerät akustisch verstärktes Gehör. Musik, Ansagen, Telefonate – jeglicher Sound wird synchron übertragen. Zudem steht Zubehör für TV, weitere Smartphones, Vorträge und ähnliches bereit.

Zum Abschluss noch einmal zurück zur Robotik: Das Schweizer Medtech-Unternehmen Advanced Osteotomy Tools AG (AOT) vermeldet den erstmaligen klinischen Einsatz (First-in-man) seines Medizinprodukts Carlo. Eingesetzt wurde Carlo – ein Akronym für Cold Ablation, Robot-guided Laser Ostetome – in der Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie am Universitätsspital Basel. Zum ersten Mal wurde der Schnitt eines menschlichen Knochens mithilfe eines robotergestützten Laser-Osteotoms anstelle eines herkömmlichen Instruments wie Säge, Bohrer oder Fräse durchgeführt. Zur präzisen Durchführung dieser Laser-Osteotomie kam der LBR Med als Teil des Medizinprodukts zum Einsatz. Die momentane klinische First-in-man-Studie, die als Basis für die Markteinführung dient, soll die Leistungsfähigkeit und Sicherheit von Carlo im klinischen Umfeld demonstrieren.

Ein Roboter ganz anderer Art hat den 15. Innovations- und Entrepreneur-Award in Robotik und Automation (IERA) erhalten: der „UVD Robot“ von Blue Ocean Robotics. Der kollaborative Roboter fährt autonom durch Krankenhäuser und sendet dabei konzentriertes UV-C-Licht aus, um Bakterien und andere schädliche Mikroorganismen zu beseitigen. Dadurch erreichen die Kliniken eine Desinfektionsrate von 99,99 Prozent. „Der UV-Desinfektionsroboter von Blue Ocean Robotics zeigt, was für ein nahezu grenzenloses Potenzial die Robotik beim Einsatz in neuen Umgebungen hat", sagt Arturo Baroncelli, ehemaliger Präsident der International Federation of Robotics, die den IERA-Award mitverleiht.

All diese Beispiele machen deutlich: Wer sich in unbekanntes medizinisches oder medizintechnisches Terrain vorwagt, braucht nicht nur Erfinder-, sondern auch jede Menge Pioniergeist. Doch es lohnt sich. Auch wenn der Weg bis zur CE-Kennzeichnung und Marktreife bisweilen beschwerlich und lang sein mag.

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Buchtipp: Einblicke in die digitale Zukunft der Medizin

Big Data, Künstliche Intelligenz und Robotik: Welche Auswirkungen wird die Digitalisierung auf das Gesundheitswesen haben? Welche neuen Gesundheitskonzepte erwarten Patienten in Krankenhäusern und Arztpraxen und wie können Bürger in Deutschland künftig schneller von digitalen und medizinischen Innovationen profitieren?

Mit diesen Fragen beschäftigt sich das neue Buch „Die Zukunft der Medizin“ der beiden Herausgeber Professor Erwin Böttinger, Professor für Digital Health und Leiter des Digital Health Centers am Hasso-Plattner-Institut (HPI), und des Arztes, Wissenschaftlers und Managers Dr. Jasper zu Putlitz. In mehr als 30 Beiträgen schildern namhafte Experten darin den aktuellen Stand der Forschung und Versorgung im medizinischen Bereich und skizzieren, wie die Zukunft der Medizin aussehen könnte.

„Die Digitalisierung und Personalisierung ergänzt und erweitert unsere Möglichkeiten in der Medizin“, schreibt SAP-Mitgründer und HPI-Stifter Professor Hasso Plattner in seinem Geleitwort. Gerade Deutschland habe bei der digitalen Transformation des Gesundheitswesens Aufholbedarf.

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