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ETH Zürich Die additive Fertigung trainiert ihre Muskeln: 4D-Druck

Autor / Redakteur: Prof. Dr. Kristina Shea, Tian Chen / Julia Engelke

Die Additive Fertigung bietet völlig neue Anpassungs- und Personalisierungsmöglichkeiten. Während die Industrie eruiert, wie sie den 3D-Druck am besten nutzen kann, wird bereits die vierte Dimension erforscht.

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Zustandänderung durch 4D-Druck
Zustandänderung durch 4D-Druck
(Bild: Vogel)
  • 4D-Druck berücksichtigt noch die vierte Dimension: die Zeit
  • Erschließung von neuen Funktionalitäten und Einsatzmöglichkeiten
  • 256 theoretisch realisierbare Formen
  • Nächster Schritt 5D-Druck?

Der 4D-Druck basiert auf dem 3D-Druck, berücksichtigt jedoch nicht nur die drei räumlichen Dimensionen, sondern auch die vierte Dimension: die Zeit. 4D-gedruckte Teile werden so gestaltet und positioniert, dass sie sich mit der Zeit in ihrer Form verändern, oder sich sogar als Reaktion auf einen Umweltreiz (z. B. Temperaturschwankungen) selbst antreiben können. Das funktioniert ohne jegliche Elektronik und ohne Steuerung, unter Verzicht auf konventionelle Maschinenelemente oder gar schwere Batterien. Es ist eine neue Art des Denkens und Gestaltens. Wenn Sie glauben, dass sich die Produktentwicklung mit dem Aufkommen des 3D-Drucks verändert, werden Sie nicht umhin kommen, den 4D-Druck als eine Revolution zu betrachten.

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Prof. Dr. Kristina Shea ist seit 2012 an der ETH Zürich Professorin für Produktentwicklung und Rechnerbasierte Methoden im Bereich des Maschinenbaus und der Verfahrenstechnik.
Prof. Dr. Kristina Shea ist seit 2012 an der ETH Zürich Professorin für Produktentwicklung und Rechnerbasierte Methoden im Bereich des Maschinenbaus und der Verfahrenstechnik.
(Bild: ETH)

Der Begriff selbst wurde ursprünglich von Skylar Tibbits in seinem TED-Talk geprägt: Er zeigte die Selbstkonfektionierung von verschiedenen 3D-Druckobjekten, die sich durch Aufquellen von Material in den Fugen von Materialsträngen zu Boxen und Logos selbst umgestalten konnten. Die „Steuerung“ der Teile erfolgte durch kreative Gestaltung des Materials und der Fugen –, um später die Reaktion auf einen bestimmten Umweltimpuls (hier die Wasseraufnahme) hervorzurufen. Zwar hatte man nun eindrucksvoll einen ersten Proof-of-Concept, bis zur Herstellung funktionstüchtiger Teile und Produkte gab es aber noch einige Probleme zu lösen: die lange Aktivierungszeit in der Größenordnung von Minuten, die mangelnde Präzision der mit handelsüblichen Materialien gedruckten Formen und schließlich die Strapazierbarkeit der Teile.

Neue Funktionalitäten durch Formgedächtnis

Um die genannten Herausforderungen zu meistern, setzt unsere Forschung auf die jüngsten Fortschritte im 3D-Multimaterialdruck. Ein Ansatz ist das Inkjet-Druckverfahren, auch bekannt als Material-Jetting, ähnlich der Funktionsweise eines Tintenstrahldruckers. Bei diesem Verfahren werden weiche und harte Photopolymere nebeneinander gedruckt, um unterschiedliche Materialhärten innerhalb eines einzigen Druckteils zu ermöglichen. Es stellte sich heraus, dass diese Polymere ein Formgedächtnis haben, ähnlich den weitgehend bekannten Formgedächtnislegierungen. Diese beiden Eigenschaften – die Möglichkeit, ein hartes Material direkt neben einem weichen Material zu drucken und der Formgedächtnis-Polymereffekt – erlauben es, mithilfe des 4D-Drucks völlig neue Funktionalitäten und Einsatzmöglichkeiten zu erschließen.

Stabil in zwei Zuständen

Nehmen wir beispielsweise an, wir möchten ein Bauteil entwerfen, das sich von einer ebenen Fläche zu einer Pyramide oder einer noch komplexeren Form restrukturiert: Durch den flachen Druck sinkt zunächst der erforderliche Materialeinsatz, auch ist dementsprechend weniger Transportvolumen nötig. Anschließend entfällt die zur Inbetriebnahme notwendige Montage des Bauteils, da keine beweglichen Baugruppen von Teilen vorhanden sind, die klemmen können.

Der Begriff der Bistabilität kommt aus der Natur – ein Beispiel wäre eine zuschnappende Venusfliegenfalle – und beschreibt eine Struktur, die in zwei Zuständen stabil ist; in diesem konkreten Fall entweder offen oder geschlossen, ähnlich einem Logikgatter in der Elektronik. Das Prinzip der Bistabilität kann in Kombination mit dem Formgedächtnis-Effekt der 3D-Druckobjekte äußerst effektiv genutzt werden: um Teile zu erzeugen, die ihre Form als Reaktion auf einen Umgebungsreiz verändern können und durch das Design auch im zweiten Zustand stabil sind. Auch die zu erwartende Formänderung und der zeitliche Ablauf lassen sich vorhersagen. Das Timing der Formänderungen kann durch Anpassung der Kraft, die zur Aktivierung des bistabilen Aktuators benötigt wird, „gesteuert“ werden. Dies wiederum wird durch die Auswahl von aktuell sieben unterschiedlich weichen Materialien gesteuert, die alle in einem einzigen Aufbau verwendet werden können.

256 theoretisch realisierbare Formen

Doch wie kommt es eigentlich zur Veränderung der Form? Ein Formgedächtnis-Polymer ist ein Kunststoff, der bei Erwärmung nachgiebig wird. Im erwärmten Zustand kann er von seiner permanenten Form auf eine Sekundärform „programmiert“ werden. Diese Sekundärform wird stabil, wenn das Formgedächtnis-Polymer abkühlt, verliert aber nicht sein „Gedächtnis“ und nimmt bei Erhitzung seine ursprüngliche Form wieder an. Dabei gibt es eine Kraft an den bistabilen Aktuator ab, die ihn in einen zweiten Zustand überführt. Es ist das „Schnappverhalten“, das den Formwandel vorantreibt und das Bauteil von einer flachen Struktur z. B. in eine Pyramide verwandelt. Aber nicht nur eine Pyramide ist möglich: Da jeder bistabile Aktuator ein- oder ausgeschaltet ist, bedeutet dies bei acht Aktuatoren im Teil, dass es 256 theoretisch mögliche Formen gibt.

Der SMP-Muskel

Die Evolution in Richtung funktionaler 4D-Druckteile erschließt völlig neue Einsatzgebiete, beispielsweise für den Einsatz in der Raumfahrt in Form von entfaltbaren Solar-Panels bei Satelliten oder Antennen, die beim Start klein verpackt und dann im Weltraum in ihren endgültigen Zustand gebracht werden müssen. Das gilt auch für Auto- oder Flugzeugoberflächen, die ihre Form verändern können müssen, um je nach Anforderung ihre volle Leistung abzurufen. Man kann sich auch vorstellen, dass sich Gebäudefassaden durch Reaktion auf Licht- und Wärmeveränderungen selbst besser beschatten, oder möglicherweise auch biomedizinische Geräte, die auf die Körpertemperatur reagieren.

Was können wir mit dieser Technologie über die Rekonfiguration hinaus tun? 4D-Druck könnte auch zur Entwicklung von Schwimmrobotern verwendet werden, z. B. für die Meeresforschung, wo unbemannte und stromsparende Geräte benötigt werden, um z. B. ozeanografische und Umweltdaten zu sammeln, einfache Nutzlasten zuzustellen oder Signale zu verbreiten. Die Schwimmroboter imitieren die Bewegung von Ruderbooten, Fröschen oder Wasserläufern und treiben sich vorwärts, indem sie ihre Ruder nach hinten schlagen. Anstelle eines Elektromotors, der an eine Stromquelle angeschlossen ist, werden die Ruder von demselben bistabilen Element angetrieben, das wiederum durch das Formgedächtnispolymer (SMP) ausgelöst wird. In diesem Fall aber wirkt es quasi wie ein Muskel, der mit den Rudern verbunden ist, um die für den Vortrieb notwendige Bewegung zu erzeugen.

Roboter reagieren auf Temperaturveränderungen

Über die Konstruktion dieses Roboters als Baugruppe sind wir in der Lage, seine Bewegung und seine Betätigung frei zu steuern. Beispielsweise kann der Roboter so konstruiert werden, dass er sich entweder in eine Richtung dreht oder sich – bei Aktivierung beider Seiten – nach hinten bewegt. Die Steuerung der Aktionssequenzen wird durch zeitlich versetzte Aktivierung der SMP-Muskeln möglich, da die Polymerzusammensetzung oder -dicke auf unterschiedliche Aktivierungstemperaturen bzw. Aktivierungsdauer abgestimmt ist. Durch die Steuerung beider Variablen kann der Roboter angewiesen werden, einem vordefinierten Pfad zu folgen und anschließend zu seinem Ausgangspunkt zurückzukehren.

Analog zu ihren mechanischen Pendants sind unter Einsatz unterschiedlicher Materialien und Geometrien auch größere und komplexere Roboter vorstellbar: Das bistabile Element könnte den Elektromotor ersetzen, der SMP-Muskel die Leistung liefern und in das SMP integrierte Sensoren die Daten über das Materialverhalten bereitstellen.

Die Grenzen der Technologie setzt aktuell noch der Umstand, dass der Formgedächtnis-Polymerstreifen nicht reversibel ist und neu programmiert werden muss. Die Forschung wird jedoch neue Materialien auf ihre Reversibilität hin untersuchen, um künftig eine zyklische Abfolge von Formänderung und damit Vortrieb zu erreichen. Damit könnte der Roboterschwimmer z. B. auf die Temperaturänderung zwischen Tag und Nacht reagieren und seine Funktionen im Tages-/ Nachtzyklus erfüllen; die rekonfigurierbare Struktur kann sich dementsprechend öffnen, schließen und ihre Form verändern.

Die industrielle Anwendung

Der 4D-Druck erweitert das Potenzial von 3D-Druckobjekten um Funktionalitäten wie Selbstmontage, Formkonfiguration und sogar Antrieb. Das neue Verfahren verwandelt statische 3D-Druckteile in Maschinen und Roboter, ohne dass traditionelle Elektronik, mechanische Komponenten und Steuerungsalgorithmen integriert werden müssen. Durch die Kombination von Materialeigenschaften und die Gestaltung mechanischer Charakteristika wie Bistabilität als Mittel zur Generierung von Formrekonstruktion und Fortbewegung könnte es in Zukunft eine Vielzahl weiterer Anwendungen geben.

Industrielle Anwendungen rücken mit fortschreitender Entwicklung bereits existierender Druckmaterialien näher, wobei es aber auch eines besseren Verständnisses bedarf, wie diese Materialien in kreativen Produkten und Geräten eingesetzt werden können. Dabei sind temperatursensible Materialien nur ein möglicher Aktivierungsmodus. Weitere Reize in der Umgebung können unter Einsatz neuer Materialien ebenfalls als Auslöser genutzt werden, z. B. Licht, Vibration oder Säure. Um diese Beispiele von Einzelstücken aus dem Labor in die Industrie zu überführen, sind allerdings auch adäquate rechnergestützte Entwurfsmethoden notwendig, die den Ingenieuren helfen, diesen neuen Anwendungsraum zu bespielen und eigene innovative Kreationen zu entwickeln.

Next Step 5D-Druck? - Begriffsklärung

Der im Artikel beschriebene 4D-Druck basiert auf der als 3D-Druck bekannten additiven Fertigung, erweitert jedoch das Bauteil um sensorische Materialien, die z. B. auf Temperaturunterschiede reagieren. So wird eine Restrukturierung möglich. Auch kursiert bereits der Begriff des 5D-Drucks: Die neue „Dimension“ beschränkt sich jedoch auf eine zusätzliche vierte und fünfte Roboterachse im Drucker selbst. Mitsubishi Electric Research Laboratories konnte so weitere unterschiedliche innere Strukturen fertigen, und erreichte bei 45 Prozent weniger Materialeinsatz eine um das drei- bis fünffach gesteigerte Steifigkeit gegenüber einem herkömmlich gedruckten Raketenteil.

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Dieser Artikel ist zuerst erschienen auf unserem Schwesterportal Mission Additive.

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