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Forschungsprojekt Patienindividualisierte textile Implantate

Ein Gastbeitrag von Tobias Lauwigi, Kai-Chieh Kuo, Alexander Löwen und Sabine Anneliese Groß* |

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Eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung macht eine Individualisierung der Medizin(technik) unerlässlich. An der RWTH Aachen wurde im Rahmen des Forschungsprojekts „IndiTexPlant“ daher die Implementierung eines automatisierten Herstellungsprozesses patientenindividualisierter textiler Implantate untersucht, um Patienten eine auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Therapie zu ermöglichen.

Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden drei Individualisierungselemente (Durchmesseränderung, Branch und Krümmung) für einen patientenindividualisierten Stentgraft erarbeitet.
Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden drei Individualisierungselemente (Durchmesseränderung, Branch und Krümmung) für einen patientenindividualisierten Stentgraft erarbeitet.
(Bild: RWTH Aachen)

Der demografische Wandel und ein zunehmend ungesunder Lebensstil in der westlichen Welt führen zu stetig steigenden Patientenzahlen mit kardiovaskulären Erkrankungen und stellen die moderne Medizin vor große Herausforderungen. Durch die zunehmenden Behandlungszahlen steigt auch die Anzahl der Patienten, welche aufgrund ihrer individuellen Anatomie oder Physiologie nicht für eine Behandlung mit Off-the-shelf(standardisierten)-Produkten geeignet sind. Eine patientenorientierte Gesundheitsversorgung macht eine Individualisierung der Medizin daher unerlässlich. Hierdurch wird auch ein Fortschreiten der Patientenindividualisierung durch Medizintechnik erforderlich, um den gewünschten Therapieerfolg zu erzielen.

Diese individualisierten Implantate sollen exakt auf die spezifische Anatomie des Patienten maßgeschneidert werden und werden in Losgröße 1 auf Basis eines medizinischen Bilddatensatzes produziert. Aus technischer und ökonomischer Sicht steht dem die Bedingung einer wirtschaftlichen und reproduzierbaren Fertigung von Produkten mit Losgröße 1 gegenüber. Mit innovativen textilen Herstellungsverfahren kann diesen Anforderungen begegnet werden. Die Wirktechnologie im Allgemeinen und die Jacquard-Wirktechnologie im Besonderen erfüllen die benötigten Anforderungen. Jedoch sind diese stark Know-how basiert. Das enorme Potential der Jacquard-Wirktechnologie für die Herstellung textiler Implantate wird derzeitig nicht genutzt, da keine Erfahrung über die Wirkzusammenhänge vorhanden sind und keine Auslegungswerkzeuge existieren, die solche Zusammenhänge adäquat beschreiben.

Abb. 1
Abb. 1
(Bild: RWTH Aachen)

Die am Institut für Textiltechnik der RWTH Aachen University (ITA) im Projekt „IndiTexPlant“ erarbeiteten Ergebnisse bieten erstmals die Möglichkeit, das virtuelle Produktdesign in Kombination mit der Jacquard-Wirktechnologie in einer digitalen Produktentstehung vom medizinischen Bilddatensatz zum Topologiemodell der rekonstruierten Produktgeometrie bis hin zur Ableitung der Musterung für das textile Produkt zu überführen (s. Abb. 1).

Anwendungsbeispiel: Implantate zur Behandlung von thorakalen Aortenaneurysmen

Abb. 2
Abb. 2
(Bild: RWTH Aachen)

Das Ziel des Projektes „IndiTexPlant“ war die Implementierung eines automatisierten Herstellungsprozesses patientenindividualisierter textiler Implantate, um Patienten eine ideal auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Therapie zu ermöglichen. Hierzu wurden verschiedene Ansätze der geometrischen und strukturellen Patientenindividualisierung textiler Stentgrafts untersucht und die drei Individualisierungselemente Durchmesseränderung, Branch und Krümmung für einen patientenindividualisierten Stentgraft erarbeitet (s. Abb. 2).

Als Anwendungsbeispiel dienten Implantate zur Behandlung von thorakalen Aortenaneurysmen, da hier sowohl ein klinisch als auch wirtschaftlich äußerst relevantes Applikationsfeld für patientenindividualisierte Implantatstrukturen vorliegt. Im Hinblick auf eine durchgängig digitale Prozesskette wurde ein virtuelles Produktdesign verwendet. Ein entscheidendes Augenmerk für den Projekterfolg war die Ermittlung und Evaluierung der relevanten Prozessparameter am Hauptprozess „Wirken“. Hierbei mussten Werkzeuge und Hilfsmittel zur Überwachung des Prozesses und Inline-Überwachung der Produktqualität entwickelt und implementiert werden.

Für die durchgängig digitale Prozesskette wurde ein datenbankgestütztes, virtuelles Modell für das Produktdesign entwickelt, das die Überführung von ausgemessenen CT-Daten eines thorakalen Aortenaneurysmas in ein 3D-Modell ermöglicht, sowie nach erfolgter Produktion eine Zuordnung der Produktionsdaten, Prozessdaten und Produktdaten gewährleistet. Für die Inline-Erfassung der Prozessparameter wurden insbesondere eine Fadenspannungsüberwachung und eine Inline-Videoanalyse entwickelt und implementiert.

Abb. 3
Abb. 3
(Bild: RWTH Aachen)

Durch die Analyse dieser Daten können Wirkzusammenhänge zwischen dem virtuellen Implantatdesign, dem Herstellungsprozess an der Doppelraschelwirkmaschine und den resultierenden Eigenschaften des textilen Halbzeugproduktes ermittelt werden. Ziel dabei ist es, ein Baukastensystem zu erhalten, bei dem geometrische und morphologische Elemente miteinander im virtuellen Produktdesign zu patientenindividualisierten Strukturen kombiniert werden können. Das Ergebnis ist ein maßgeschneidertes Implantat für den jeweiligen Patienten in Losgröße 1 (s. Abb. 3).

Wer kann die Projekt-Ergebnisse nutzen?

Die Ergebnisse im Bereich der virtuellen Produktplattform zur Herstellung medizinischer Textilien können von Implantat- und Halbzeugherstellern genutzt werden, um bestehende Prozesslinien zu digitalisieren. Auch Softwarehersteller und Dienstleister im Bereich des Implantatdesigns können von diesen Ergebnissen profitieren. Darüber hinaus ist ein branchenübergreifender Transfer der Ergebnisse auf Herstellungsprozesse weiterer technischer Textilien vielversprechend. Basierend auf den Projektergebnissen wird eine Reduktion des erforderlichen Zeitraums für die Neuentwicklung individualisierter Implantatstrukturen von vielen Monaten auf wenige Wochen ermöglicht. Im Bereich der Implantatentwicklung können die ermittelten Erkenntnisse nach Projektende auf weitere Anwendungsgebiete übertragen werden. Hervorzuheben sind hierbei insbesondere tubuläre Implantatstrukturen für den Einsatz bspw. als Darmersatz, Harnröhrenersatz oder Speiseröhrenersatz. Aufgrund der aufwendigen Zulassung von Medizinprodukten ist in Abhängigkeit von Änderungen im Rahmen der neuen europäischen Medizinprodukteverordnung (MDR) mit einer Dauer bis zur kommerziellen Umsetzung von fünf bis sieben Jahren nach Projektende zu rechnen.

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Förderung

Das IGF-Vorhaben 20532 N der Forschungsvereinigung Forschungskuratorium Textil e.V., Reinhardtstraße 14-16, 10117 Berlin wurde über die AiF im Rahmen des Programms zur Förderung der industriellen Gemeinschaftsforschung IGF vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages gefördert.

Weitere Artikel zur Zukunft der Medizintechnik finden Sie in unserem Themenkanal Forschung.

* Die Autoren: Tobias Lauwigi, Kai-Chieh Kuo, Alexander Löwen und Sabine Anneliese Groß, Institut für Textiltechnik, RWTH Aachen University

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