Mitarbeiterführung Leadership wird in der deutschen Medtech-Branche zur Existenzfrage
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26. Mai 2021: An diesem Tag wird die Übergangsfrist der neuen europäischen Medical Device Regulation (MDR) endgültig auslaufen. Durch die MDR stehen Hersteller vor größeren Herausforderungen und Kosten bei der Zulassung neuer Medizintechnikprodukte. Gleichzeitig bieten gerade jetzt neue Technologien ungeahnte Chancen für die Medtech-Branche. Mehr denn je wird damit Leadership zur entscheidenden Frage.

Die stark mittelständisch geprägte deutsche Medizintechnikbranche steht ausgerechnet in Zeiten diverser Corona-bedingter Einschränkungen und Umsatzrückgänge vor gewaltigen Herausforderungen. Während die neue Medical Device Regulation (MDR), verbunden mit der Vielzahl an regulatorischen Einschränkungen auf verschiedenen Ebenen, als Bremsfaktor wirkt und der Brexit die Handelsbeziehungen zwischen EU und Großbritannien vor ungeklärte Fragestellungen stellt, stehen der Branche gleichzeitig technologische Chancen offen, wie es sie nie zuvor gab. Diese Gesamtgemengelage setzt Unternehmen nicht zuletzt aus Human Resources (HR)-Sicht massiv unter Druck. Denn der hohe Veränderungsdruck erfordert sowohl auf Mitarbeiterseite, insbesondere aber auf Entscheiderebene, ebenso umfangreiches wie rares Spezialwissen und Führungserfahrung.
Risikofaktor benannte Stelle
Aufgrund der steigenden regulatorischen und bürokratischen Anforderungen aus der MDR lassen sich in der Medtech-Branche mittlerweile starke Auswirkungen beobachten. Für sämtliche Produkte oberhalb der untersten Risikoklasse müssen Hersteller bei der Konformitätsbewertung von Bestands- oder Neuprodukten eine benannte Prüfstelle – offiziell „Benannte Stelle der Europäischen Union“ – mit einbeziehen. Entsprechend autorisierte Prüfstellen sind jedoch bis jetzt noch rar. Zudem ist davon auszugehen, dass diese vorrangig internationale Medtech-Konzerne bedienen werden. Erschwerend hinzu kommt der Bewertungsprozess an sich: Erfahrungsgemäß können hier selbst kleinere Rückfragen an den Hersteller zu massiven Zeitverzögerungen führen.
Weniger Produkte, weniger Forschung, mehr Netzwerk
Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass viele Unternehmen ihr Bestandsportfolio verkleinern und gleichzeitig wegen des erhöhten Zulassungsaufwands auch ihr Engagement in Produktinnovationen reduzieren. Woanders fokussieren sich Anbieter nur noch auf besonders umsatz- und renditestarke Produkte. So manche für das Gesundheitswesen wichtigen Produkte, bei denen der Zulassungsaufwand für Hersteller jetzt übermäßig gestiegen ist, könnten damit vom Markt verschwinden. In manchen Fällen wird dies auch für komplette Unternehmen gelten.
Dennoch gilt: Der Vorteil an solch kritischen Situationen ist, dass sich mitunter aber auch ganz neue Lösungsansätze zeigen, die sich ohne diesen großen Druck nicht entwickelt hätten. So entstehen derzeit unter anderem sehr innovative Kooperationsnetzwerke zwischen KMUs.
Enorme Chancen dank neuer Technologien
Trotzdem führt für alle Player im Markt kein Weg daran vorbei, sich spätestens jetzt personell weiter zu verstärken, um den gestiegenen Arbeitsumfang und die zusätzlich entstehenden Fachexpertisen in Bereichen wie Regulatory Affairs (RA), Quality Management (QM) und Good Manufacturing Practice (GMP) nachhaltig zu sichern. Gleichzeitig muss das Fachwissen mit einem hohen Verständnis für IT bis hin zu ethischen Aspekten gepaart sein, denn Trends und neue Entwicklungen wie Digital Health, Evidence-based Clinical Decision Support Systems (CDSS), die herstellerübergreifende Intraoperabilität und das Thema Internet of Medical Things (IoMT) bieten weiterhin große Chancen.
Qualifizierte Kräfte sind rar
Vor dem Hintergrund der existenziellen Dimension des Themas und der zeitlichen Dringlichkeit steigt vielerorts der Druck auf die Management-Ebene. Zum einen verändert sich das Anforderungs- und Kompetenzprofil der Unternehmensentscheider selbst; mehr denn je sind in den aktuellen Zeiten der Veränderungen Leadership-Qualitäten gefragt. Eine klare Vision, Charisma und die Fähigkeit, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinter einem agilen Ziel zu vereinen und zu Höchstleistungen in instabilen Zeiten zu motivieren sind entscheidende Kompetenzen, die jetzt gefordert sind. Hinzu kommen Anforderungen nach Projektmanagement-Know-how und ein Verständnis für komplexe Prozesszusammenhänge, um rasch und konzertiert die nötigen Initiativen in den Unternehmen zu ergreifen.
Aber auch auf Fachkräfte-Ebene steigen die Anforderungsprofile. Es ist längst nicht mehr ausreichend, eine bestehende Spezialistenrolle ausfüllen zu können. In rasendem Tempo entstehen Nischen-Disziplinen, die besondere Expertise erfordern. Gleichzeitig wird es auch für Fachkräfte wichtiger, nicht nur als Spezialist in Eigenregie zu überzeugen, sondern in agilen Teams mit dynamischen Projektzielen andere für sich zu gewinnen. Dafür braucht es auch Fähigkeiten wie Kommunikations- und Führungsstärke. Während der Personaldruck und die Kompetenzanforderungen damit auf der einen Seite steigen, ist der Markt an Fach- und Führungskräften jedoch zunehmend leergefegt. In Eigenregie über den klassischen Stellenmarkt zu rekrutieren wird für Unternehmen immer schwerer. Zumal viele mittelständische Unternehmen mit Marken-Reputation, Standort und Gehaltsniveau großer internationaler Konzerne nicht mithalten können.
Kreative und nachhaltige HR-Lösungen sind gefragt
Auch wenn KMUs auf den ersten Blick im Vergleich zu internationalen Konzernen für Bewerberinnen und Bewerber weniger attraktiv wirken könnten, lohnt sich ein Blick auf die Arbeitnehmer-Vorteile. KMUs überzeugen schon seit jeher branchenübergreifend mit hoher Innovationskraft und Fokussierung auf Kernkompetenzen und -technologien. Darüber hinaus wirkt sich die Tatsache, dass sie nicht (nur) vom Aktienkurs gesteuert werden, positiv auf Beständigkeit und Strategietreue aus, was gleichzeitig mit kurzen Entscheidungswegen und oft deutlich greifbareren Möglichkeiten der Mitgestaltung gepaart ist. Beste Voraussetzungen für Selbstwirksamkeit und Gestaltungsfreiraum. Zudem punkten KMUs häufig mit überdurchschnittlicher Familienfreundlichkeit. Wie können also vor diesem Hintergrund kreative und nachhaltige Lösungen im Recruiting aussehen?
Zunächst muss es überhaupt gelingen, passende Kandidatinnen und Kandidaten zu identifizieren und auf das eigene Unternehmen und die Vorzüge aufmerksam zu machen. Dies kostet vor allem Zeit. Schon an dieser Stelle kann es sinnvoll sein, sich einen branchenerfahrenen Partner an die Seite zu holen. Ob für die Entwicklung des Anforderungs- und Kompetenzprofils, die Identifikation geeigneter Persönlichkeiten auf dem Markt, das professionelle Selektieren oder das nachhaltige Onboarding: Unternehmen, die auf externe Beratung und Unterstützung im Bereich Personal setzen, können oft gezielter und schneller vakante Schlüsselpositionen besetzen.
Auch darüber hinaus sind Unternehmen gut beraten, neue Wege zu gehen und auch bislang vermeintlich abwegigen Ideen Aufmerksamkeit zu schenken. Mit mutigen Lösungswegen wird der Medtech-Standort Deutschland ohne Zweifel auch in Zukunft Wachstumsbranche und Innovationstreiber bleiben und im „War For Talents“ erfolgreich bestehen.
Weitere Artikel zur Führung von Medizintechnik-Unternehmen finden Sie in unserem Themenkanal Management.
* Der Autor: Martin Schmidt ist Partner der Rochus Mummert Healthcare Consulting GmbH und Experte für die Besetzung von Schlüsselpositionen im Bereich Medizintechnik.
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