Aktuelle Lage der Branche Der Blick nach vorne
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Was erwartet die Medizintechnik-Branche im dritten Pandemiejahr? Geht es jetzt wieder zurück zum „Business as usual“? Eine neue Messe im Frühjahr, der Start der IVDR, Trends in Sachen Digitalisierung, aber auch das altbekannte MDR-Thema werden eine Rolle spielen.

Das Healthcare- und Life-Sciences-Team des EMS-Dienstleisters Plexus hat Ende 2021 Medizintechnik-Hersteller zu den Herausforderungen und Chancen des nächsten Jahres befragt. Ganz oben auf der Liste standen Rohstoffmangel, Lieferengpässe und hohe Frachtkosten.
Supply Chain Resilience wird zur Überlebensfrage
Der globale Engpass bei Halbleitern trifft momentan fast alle Branchen – und wird sich mit großer Wahrscheinlichkeit noch bis 2023 hinziehen. Chips sind aber nicht das einzige Problem. Auch andere Rohstoffe und Vorprodukte wie Stahl, Aluminium, Kunststoff und Holz sind rar und damit teuer. Für Hersteller und Zulieferer handelt es sich um mehr als nur um Unterbrechungen der Lieferkette. Viele rechnen mit einem immensen finanziellen Schaden – wenn nicht sogar mit dem Geschäftsaus.
Ein proaktives und vorausschauendes Supply Chain Management gehörte bereits im letzten Jahr zu den Top-Prioritäten. In diesem Jahr wird diese Aufgabe zur Überlebensfrage. Vorlaufzeiten haben sich geändert und müssen zukunftssicher geplant werden. Es gilt, Optionen bei Nichtverfügbarkeit von Komponenten zu evaluieren – von „Drop-in- Ersatzteilen“ bis zu kompletten Re-Designs. All das setzt ein hohes Maß an Agilität und Weitsicht voraus. Zu den wichtigsten Entscheidungen, die Medizingerätehersteller jetzt treffen, gehören der Einsatz von Predictive-Analytics-Tools, der Ausbau ihres Zulieferer-Netzwerks sowie die Implementierung eines Design-for-Supply-Chain(DfSC)-Ansatzes, der die Lieferkette bereits in der Entwicklungsphase berücksichtigt.
Point-of-Care-Diagnostik boomt
In der Labordiagnostik hat Covid-19 zwei brennende Fragen aufgeworfen: Wie kann das Testen und Analysieren lokal durchgeführt werden? Und wie lässt sich die Analyse beschleunigen? Molekulardiagnostische Systeme (MDx), die eine schnelle Diagnostik am Point-of-Care (POCT) ermöglichen, erleben angetrieben durch PCR-Tests einen Boom.
Das hohe Innovationstempo bei Laborgeräten setzt sich 2022 fort. Umso wichtiger ist es für Unternehmen im Bereich Diagnostik und Life Science, auf entsprechende Partner bei der Entwicklung und Fertigung zu setzen. Sie bringen das nötige technische Know-how mit, um komplexe Geräte und Systeme zeitnah auf den Markt zu bringen und Compliance-Anforderungen zu erfüllen. Dabei geht es vor allem darum, die Partner flexibel abrufen zu können und komplementär zur inhouse vorhandenen Expertise ins Team zu integrieren. Klappt das, lassen sich Nachfrage-Spitzen und Krisen zukünftig besser abfedern.
Einzelne Bereiche der Medtech-Branche sind noch immer stark von der Coronakrise betroffen, darunter der Bereich der elektiven Eingriffe. Viele Operationen mussten erneut verschoben werden. Das wirkt sich zwangsläufig negativ auf die Auftragsbücher von Medtech-Unternehmen aus. In diesem Jahr wird hier eine Besserung erwartet. Beim Hochfahren der Produktion müssen Hersteller verstärkt auf externe Ressourcen zurückgreifen. Das Outsourcing umfasst dabei nicht mehr nur die Fertigung, sondern schließt auch die Entwicklung (Design-for-Manufacturing), das Supply Chain Management sowie Aftermarket-Services ein.
Künstliche Intelligenz weiter gefragt
Der Markt für künstliche Intelligenz (KI) im Gesundheitswesen soll bis 2028 um das Zwölffache wachsen – von 10,6 Mrd. auf 120,2 Mrd US-Dollar. Die Entwicklung und Integration von moderner Datenanalytik und Machine Learning (ML) in medizinische Geräte sowie in den Produktionsanlagen selbst nimmt kontinuierlich zu. Damit rückt zukünftig ein neuer Aspekt in den Mittelpunkt: die KI-Compliance. Gesetzliche Regelungen zum Einsatz von KI-gestützten Anwendungen sind bereits im Entstehen. Die FDA veröffentlichte 2021 einen Aktionsplan für künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen.
Auch die EU-Kommission hat im vergangenen Jahr einen ersten Gesetzesentwurf zu KI vorgelegt, der die rechtlichen Rahmenbedingungen von KI-Anwendungen festlegen soll. Für das Gesundheitswesen und in der Medizintechnik sollen dabei besonders strenge Kriterien angelegt werden. Medizingerätehersteller sind gut beraten, diese Entwicklungen im Auge zu behalten und wenn nötig einen Partner mit der erforderlichen Compliance-Expertise ins Boot zu holen.
Cybersecurity muss garantiert werden
Das Thema Cybersicherheit gewinnt in jeder Branche an Dringlichkeit, trifft Medizingerätehersteller jedoch gleich mehrfach: Zunächst gilt es, das eigene Intellectual Property zu schützen – insbesondere, wenn Produkte zur Fertigung außer Haus gegeben werden. In der Produktion selbst heißt es, Anlagen und Standorte vor Cyberattacken wie Ransomware abzusichern. Und schließlich müssen Hersteller als Inverkehrbringer die Cybersicherheit ihrer medizinischen Geräte am Markt garantieren. Probleme machen dabei vor allem Legacy-Produkte, die dringend an neue Standards angepasst werden müssen.
Die Medizintechnik-Messen 2022 in Deutschland
Die Medizintechnik-Messen, die hoffentlich in Präsenz stattfinden können, bieten eine gute Plattform für die Branche, um sich über die Trends, Herausforderungen und Chancen in diesem Jahr austauschen zu können.
2022 erwartet die Medizintechnik-Branche eine Messepremiere: Zum ersten Mal findet vom 3. bis zum 5. Mai die Medtec Live with T4M in Stuttgart statt. Ende September 2021 verkündeten die Messeveranstalter der Medtec Live und T4M die, für viele nicht unerwartete, Neuigkeit. Die beiden Messen vereinen ihre Expertise und wachsen zu einem Event zusammen. Die Medtec Live with T4M findet ab sofort jährlich wechselnd in Stuttgart und Nürnberg statt. Veranstalter ist die Medtec Live GmbH. Für die Branche eine Erleichterung: Die Veranstalter kommen damit dem dringenden Wunsch der Branche nach einem singulären und zentralen europäischen Frühjahrsevent in Süddeutschland nach, das die starken Medizintechnikregionen Stuttgart/Tuttlingen und Nürnberg/Erlangen gleichermaßen mit einbindet. Namhafte Verbände haben sich für die Messe ausgesprochen. Als ideelle Träger der Medtec Live with T4M sind das Forum Medtech Pharma e.V., die VDMA Arbeitsgemeinschaft Medizintechnik sowie Swiss Medtech mit an Bord.
„Die Medtec Live with T4M bringt die Medtech-Community Europas zusammen und setzt dank ihrer einzigartigen Ausrichtung auf Zukunftsthemen Innovationsimpulse für die ganze Branche“, so Christopher Boss, Executive Director Medtec Live bei der Nürnberg Messe. „Wir freuen uns, der Branche nun ein wahrhaft singuläres Event im Frühjahr bieten zu können, und sind überwältigt von den vielen positiven Rückmeldungen, die uns bisher zur Medtec Live with T4M erreicht haben.“ Der Zuspruch aus der Branche ist sogar so groß, dass die Veranstaltung in eine neue Halle umziehen muss: Statt in der geplanten Halle 9 der Landesmesse Stuttgart wird die Fachmesse in der neuen Halle 10 stattfinden. „In der neuesten Halle in Stuttgart haben wir rund 40 Prozent mehr Fläche zur Verfügung. Und die Nachfrage nach Standflächen ist weiterhin ungebrochen hoch“, sagt Boss.
Die größte Medizintechnik-Messe findet 2022 auch wieder statt: Vom 14. bis 17. November öffnen sich die Tore der Düsseldorfer Messehallen für die Compamed im Verbund mit der Medica. Das Feedback aus dem vergangenen Jahr kann sich, angesichts der Corona-Einschränkungen, sehen lassen: 46.000 Fachbesucher (73 Prozent internationaler Anteil) aus 150 Nationen nutzten die Gelegenheit, um sich vor Ort mit den 3.033 Medica-Ausstellern und 490 Compamed-Ausstellern auszutauschen.
Und täglich grüßt die MDR
Eines der Hauptthemen der Compamed 2021 war die neue EU-Medizinprodukteverordnung (Medical Device Regulation, kurz MDR), die nach diversen Übergangsfristen am 26. Mai 2021 endgültig in Kraft getreten ist. Die Bilanz aus der Branche ist ernüchternd. Noch immer gibt es die altbekannten Probleme: Kleinere und mittlere Unternehmen leiden unter der MDR-Umsetzung. Laut einer Umfrage des Bundesverbands Medizintechnologie (BV-Med) mussten bisher rund 70 Prozent der Mitgliedsunternehmen aufgrund der MDR-Neuregelungen einzelne Medizinprodukte oder ganze Produktlinien vom Markt nehmen. Zudem gibt es noch immer zu wenig benannte Stellen. Momentan sind es 27 (Stand 22. März 2022).
Brussels – we have a problem!
Bei einer MDR-Veranstaltung Ende Februar, organisiert durch das Land Baden-Württemberg, richteten die Vertreter, u. a. vom Deutschen Industrieverband Spectaris, deutliche Worte an die Europäische Kommission: „Brussels – we have a problem!“ Es muss eine schnelle, europäische Lösung her. „Wir sehen erst die Spitze des Eisbergs von Produktabkündigungen durch die MDR. Diese haben aber bereits jetzt spürbare Auswirkungen auf die Versorgung von Patienten und Patientinnen. Die Frage ist, wie sich die schlimmsten Folgen für alle Betroffenen noch verhindern lassen“, betonte Corinna Mutter, Regulatory-Affairs-Leiterin bei Spectaris. Positiv bewertet der Verband, dass die Europäische Kommission eine Task Force eingerichtet hat. Über den genauen Umfang und ihren Arbeitsauftrag sei jedoch noch wenig bekannt.
Wird bei der IVDR alles besser?
Mit der Verordnung (EU) 2017/746 („IVDR“) gilt ab 26. Mai 2022 ein ebenfalls umfassender neuer Rechtsrahmen für In-vitro-Diagnostika (IVD). Durch eine Änderungsverordnung wurden jüngst zwar differenzierte Übergangsfristen für bestimmte IVD sowie für Produkte aus Eigenherstellung geschaffen. Generell bleibt es aber beim ursprünglich geplanten Geltungsbeginn der IVDR. Zudem wird ab diesem Datum die neue nationale Rechtslage des Medizinprodukterecht-Durchführungsgesetzes (MPDG) auch für IVD relevant. Doch wurde bei der IVDR-Umsetzung aus der MDR-Umsetzung gelernt? Momentan gibt es laut Europäischer Kommission 6 benannte Stellen für In-vitro-Diagnostika (Stand 22. März 2022). Die schrittweise Einführung kann aber, laut den Regulatory-Affairs-Experten von Seleon in ihrer Devicemed-Kolumne, positiv bewertet werden. Denn im Gegensatz zur MDR hat man sich in diesem Fall nicht für eine generelle Verschiebung bzw. Verdichtung stark gemacht, sondern für eine eindeutige Entzerrung der Vorgehensweise, mit Option auf eine weitere Entzerrung.
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Veranstaltung
Regulatory Affairs – Experten diskutierten über MDR und IVDR
Die neue Bundesregierung
Als Ende 2021 die neu gewählte Bundesregierung ihren Koalitionsvertrag vorlegte, wurde dieser von den beiden Verbänden BV-Med und Spectaris positiv bewertet. Die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP ließ einige gute Ansätze, wie das Bekenntnis zur Stärkung der Innovations-, Investitions- und Wettbewerbsfähigkeit der Industrie und einer Digitalisierungsstrategie im Gesundheitswesen, erkennen. Allerdings fehlten konkrete Maßnahmen, wie ein solches Bekenntnis in der Praxis funktioniert. Beide Verbände bieten der Regierung eine enge Zusammenarbeit an, um die gesteckten Ziele zu erreichen. Die aktuelle Corona-Situation stellte jedoch viele Aufgaben für den neuen Gesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach (SPD) in den Hintergrund.
Digitalisierung und E-Health 2022
Auch beim Thema Digitalisierung und E-Health wird 2022 ein Jahr mit vielen Veränderungen: Wir haben einen neuen Gesundheitsminister, das E-Rezept wird bundesweit eingeführt, nach den Digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) werden Digitale Pflegeanwendungen in die Regelversorgung aufgenommen. Aber welche Trends im E-Health-Bereich sehen die Spitzenkräfte der Branche selbst? Das haben die E-Health-Kommunikationsexperten von The Medical Network gefragt. Raphaël Murswieck, Director Research & Development bei The One Medical, ist sich sicher: „Parallel zum Pandemiegeschehen entwickelt sich weiterhin besonders der Markt für fortschrittliche Präventionsdiagnostik und individuelle Gesundheitsförderung – zum Beispiel durch Smart Textiles.“ Hannes Klöpper, CEO von Hello Better, ergänzt: „DiGA werden auch 2022 das große Thema in der Digital-Health-Szene sein. Darüber hinaus wird die Personalisierung dieser digitalen Therapien durch den Einsatz künstlicher Intelligenz ganz oben auf der Agenda stehen.“
Was kann die „App auf Rezept“ leisten?
Momentan sind auf den Seiten des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 31 DiGA gelistet (Stand 22. März 2022). Auffällig ist, dass viele DiGA dem Feld der Therapie-Apps, z. B. zur Bewältigung von Depressionen und Angststörungen, zugeordnet sind. Ein Thema, das auch außerhalb der Branche diskutiert wird. So wurden in der Sendung ZDF Magazin Royale vom Moderator und Satiriker Jan Böhmermann zum Thema (fehlende) Psychotherapieplätze drei DiGA mit Therapie-Schwerpunkt kurz vorgestellt.
Seit etwas mehr als einem Jahr ist es möglich, DiGA auf Rezept zu verordnen. Voraussetzung dafür ist, dass sie als Medizinprodukte mit CE-Zertifikat zugelassen sind und bereits einen medizinischen Nutzen oder eine Verbesserung der Patientenversorgung nachgewiesen haben oder dies innerhalb eines Jahres wahrscheinlich ist. In diesem Fall erhalten sie eine vorläufige Zulassung. Doch wie steht es um den tatsächlichen Nutzen in der Praxis? Wie lassen sich die neuen Anwendungen in die ärztliche Diagnostik und Therapie einbinden? Welche rechtlichen Aspekte gibt es und was kann die Medizin von DiGA erwarten? Die Arbeitsgruppe „Digitale Gesundheitsanwendungen“ der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin e.V. (DGIM) hat sich einen ersten Überblick verschafft. Anwendungen im medizinischen Bereich, deren Hauptfunktion auf einer digitalen Technologie beruht und die in erster Linie von Patienten benutzt werden, werden als DiGA bezeichnet.
„Meist handelt es sich dabei um Smartphone- oder Computer-Apps, aber auch Webanwendungen oder andere Programme können als DiGA fungieren“, erklärt Professor Dr. med. Martin Möckel, ärztlicher Leiter der Notfallmedizin/Zentrale Notaufnahmen und der Chest Pain Units am Campus Mitte und am Virchow-Klinikum der Berliner Charité. Er ist Vorsitzender der Arbeitsgruppe Digitale Gesundheitsanwendungen/KI in Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. „Auch die Kosten sind ein Faktor, denn diese müssen primär von den gesetzlichen und privaten Krankenkassen getragen werden und die Hersteller selbst dürfen keine Werbung schalten“, ergänzt Möckel. Naheliegende Anwendungsbereiche seien Tracking-Funktionen, die automatisch Bewegung oder Puls erfassen oder es erlauben, in Tagebuchform Ernährung und Gewicht zu vermerken.
DiGA im Ärzte-Test
„Einige DiGA erstellen aus diesen Daten auch Arztreports, die wertvolle Informationen für die individuelle Behandlung liefern können“, sagt Möckel. Andere Apps unterstützen die Patienten gezielt im Alltag mit detaillierten Anleitungen zu Bewegungsübungen oder Ratschlägen für eine gesunde Lebensweise. „In der BfArM-Liste finden sich zwar Angaben zu den Indikationen, für die die jeweilige App entwickelt wurde. Um zu entscheiden, ob sie für einen bestimmten Patienten geeignet ist, muss der Arzt oder die Ärztin die App jedoch selbst testen können“, sagt Möckel. Hierfür, und um dem Patienten die App am Bildschirm erklären zu können, wäre ein möglichst unbefristeter Testzugang sinnvoll. „DiGA können das Spektrum der Medizinprodukte in Zukunft sicherlich bereichern. Klar ist aber auch, dass sie die Behandlung und Medikation durch den behandelnden Arzt nur unterstützen, das heißt, dass ihre Anwendung unter der Kontrolle des Arztes bleiben muss“, betont Professor Dr. med. Markus M. Lerch, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des LMU-Klinikums München und Präsident der DGIM.
Es gibt vieles, was die Medtech-Branche in diesem Jahr erwartet und auch herausfordert. Machen wir das Beste daraus – gemeinsam.
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