Ausstehende Kobalt-60-Lieferungen „Alle deutschen Betreiber von Gamma-Anlagen sind betroffen“
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Verschärfte Vorgaben für den Transport von Kobalt-60-Quellen, die für die Sterilisation mit Gamma-Strahlung benötigt werden, sorgen für Unruhe in der Medizinprodukte-Industrie. Dr. Andreas Ostrowicki, geschäftsführender Gesellschafter von BGS Beta-Gamma-Service, gab Ende Februar einen Einblick zur Lage und Versorgung durch die Strahlensterilisation im Allgemeinen und die Gamma-Sterilisation im Besonderen. Wie ist der derzeitige Stand?

Durch ausstehende Kobalt-60-Lieferungen haben sich die Sterilisationskapazitäten bei deutschen Betreibern von Gamma-Anlagen in den vergangenen Monaten weiter reduziert. Was hat sich seit unserem letzten Gespräch getan?
Dr. Andreas Ostrowicki: Es gab Bewegung in der Thematik, aber zum jetzigen Zeitpunkt stehen die Transportgenehmigungen weiterhin aus. Es gibt nur eine vorsichtig optimistische Prognose der für den Transport zugelassenen Spezialunternehmen von Kobalt-60-Quellen: Derzeit gehe man davon aus, dass noch im zweiten Quartal wieder Kobalt-60-Transporte durchgeführt werden können und Nachladungen möglich seien. Dies ist jedoch keine zufriedenstellende Planungsgrundlage für uns, für unsere Kunden, die den Markt beliefern müssen, und für die Hersteller von Kobalt-60, die ihre Liefervereinbarungen treffen müssen. Die Situation ist nach wie vor: Nach aktuellem Stand sind aufgrund der Genehmigungslage Transporte im erforderlichen Umfang in Deutschland nicht möglich. Ich möchte noch einmal verdeutlichen: Betroffen von dieser prekären Situation sind alle deutschen Betreiber von Gamma-Anlagen. Es handelt sich dabei um ein ausschließlich deutsches Problem, da die Vorgaben für die Transportunternehmen von den Behörden so hochgesetzt wurden, dass es außerordentlich hohe Aufwände erfordert, diese zu erfüllen. Leider scheint es dabei am Bewusstsein für die daraus resultierenden Konsequenzen zu mangeln. Notwendige und fristgerechte Nachladungen von Gamma-Anlagen sind damit im zweiten Jahr in Folge nicht sichergestellt! Dies geht zulasten der deutschen Medizintechnikindustrie, die nicht über die notwendigen Sterilisationskapazitäten verfügen kann. Das wiederum hat Auswirkungen auf die zuverlässige Marktversorgung mit sterilen Medizinprodukten, die Versorgung der Patienten und das Wachstum der Medizinprodukte-Industrie.
Notwendige und fristgerechte Nachladungen von Gamma-Anlagen sind im zweiten Jahr in Folge nicht sichergestellt.
Die Sterilisation mit Gammastrahlung ist eine der meistgenutzten Sterilisationsmethoden weltweit. Wie bewerten Sie die weitere Entwicklung?
Derzeit sind ca. 250 kommerzielle Gammabestrahlungsanlagen in rund 50 Ländern in Betrieb. Schätzungsweise 40 Prozent des weltweiten Bedarfs an Sterilprodukten wird in diesen Anlagen sterilisiert. Dies umfasst medizinische Einwegprodukte wie Spritzen, Katheter, Dialysefilter bis hin zu Implantaten oder Endoprothesen, die in praktisch allen Bereichen des Gesundheitswesens eingesetzt werden. Ein Patient, der operiert wird, eine Wundversorgung erhält, der geimpft oder dem eine Blutprobe entnommen wird, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Produkten behandelt, die mit Kobalt-60 erzeugten Gammastrahlen sterilisiert wurden – auf der Produktverpackung ist das an der Kennzeichnung „R“ für „radiation sterilization“ erkennbar. Das Verfahren ist sicher, etabliert und vor allem schnell, denn die behandelten Produkte sind nach der Bestrahlung ohne Wartezeit direkt einsatzbereit. Selbstverständlich wird das Produkt durch die Gammabestrahlung nicht radioaktiv, sondern es werden nur die schädlichen Keime auf den Produkten vernichtet. Aufgrund der weltweit wachsenden und alternden Bevölkerung und eines besseren Zugangs zur Gesundheitsversorgung steigt die Nachfrage nach Sterilisationskapazitäten kontinuierlich. Die im Markt wiederholt als Alternative zu Kobalt-60 diskutierte Sterilisation mit Röntgenstrahlen („X-Rays“) stellt aufgrund des außerordentlich hohen Energieverbrauchs allenfalls eine Ergänzung dar. Es muss jedoch noch viel Arbeit geleistet werden, um die Infrastruktur für die Röntgensterilisation zu entwickeln, bevor sie als echte Alternative zur Gammabestrahlung angesehen werden kann.
Um die erforderlichen Kapazitäten für die Sterilisation mit Gammastrahlen bereitzustellen, wird Kobalt-60 benötigt. Was muss passieren, damit die Versorgung gewährleistet wird?
Vorab zur Erklärung: Kobalt-60 ist ein radioaktives Isotop (60Co), das entsteht, wenn natürlich vorkommendes Kobalt-59 in Kernreaktoren mit Neutronen bestrahlt wird. Zunächst brauchen wir auch hier ein gemeinsames öffentliches Bewusstsein über den außerordentlich hohen Nutzen dieses Materials und die Konsequenzen, die mit einer eingeschränkten Verfügbarkeit verbunden sind. So wird Kobalt-60 als Quelle ionisierender Strahlung nicht nur zu Zwecken der Sterilisation eingesetzt. Weitere wichtige Einsatzbereiche des Isotops sind die nicht-invasive Behandlung von Krebserkrankungen, wie Hirntumoren. Viele Prozesse, in denen Keime schädliche Auswirkungen haben, z. B. die Verpackung von Pharmazeutika und Impfstoffen und die Herstellung von Halbleitern, erfordern Gamma-sterilisierte Verbrauchsmaterialien. Herausragendes Beispiel sind die mittels Strahlen sterilisierten Bioreaktoren, die bei der Produktion der Corona-Impfstoffe erforderlich waren.
Gegenwärtig wird Kobalt-60 hauptsächlich aus Nordamerika geliefert und in einer kleinen Anzahl spezieller Kernreaktortypen hergestellt. Derzeit laufen Entwicklungen zur Ausweitung der Produktion durch den Einsatz gängigerer Druckwasserreaktoren, von denen es weltweit eine sehr große Zahl gibt. Die Frage muss gestellt werden, warum Europa als weltweit zweitgrößter Hersteller von Medizinprodukten keine Anstrengungen für eine eigene Versorgung mit diesem strategisch wichtigen Material unternimmt. Im Jahr 2021 unterzeichneten Westinghouse und EDF eine Absichtserklärung zur Herstellung von Kobalt-60 in ausgewählten Reaktoren in Frankreich, die von EDF betrieben werden. Für die europäische Medizinprodukte-Industrie wäre es ein großer Schritt in Richtung Versorgungssicherheit, wenn andere europäische Betreiber von Kernreaktoren Schritte zum Aufbau eigener Kapazitäten für die Produktion von Kobalt-60 unternehmen würden.
Anm. d. Red.: Das Interview mit Dr. Andreas Ostrowicki wurde am 21. April 2023 geführt.
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