Ergänzendes zum Thema
Was erwarten Chirurgen von Ingenieuren, Informatikern und Medizintechnikern?
Von Prof. Dr. Hubertus Feußner
Landläufig gilt Chirurgie als eine Kunst, die durch den mehr oder weniger talentierten Chirurgen ausgeübt wird. Besonders herausragenden Vertretern des Fachs werden sogar „goldene Hände“ attestiert. Wahrscheinlich wurde aber schon in der Vergangenheit die motorische Geschicklichkeit als Erfolgsfaktor maßlos überschätzt.
Wie in allen anderen Lebensbereichen auch wird heute auch in der Chirurgie immer klarer, dass physikalische Grenzen vorgegeben sind, die eine weitere Steigerung der individuellen Leistungsfähigkeit von Chirurgen (Selektion des Nachwuchses, sorgfältigere und längere Ausbildung usw.) nicht mehr erlauben. Wenn in der Chirurgie künftig weitere Fortschritte erzielt werden sollen, wird dies nur durch neue Verfahren und Methoden möglich sein. („Wir brauchen keine besseren Chirurgen, sondern wir brauchen bessere Methoden“, D. Lorenz).
Mittelbar wird sich das Aufgabenfeld der Chirurgie natürlich auch durch die Veränderungen in der konservativ-medikamentösen Therapie ändern. Aber einen ganz unmittelbaren Einfluss auf das Fach werden die Impulse aus der Medizintechnik haben. Aus diesem Grund ist die Chirurgie mehr denn je auf innovative Technologien angewiesen, die es ermöglichen, interventionelle Therapien noch wirkungsvoller, noch schonender und sicherer und wenn möglich auch noch kosteneffizienter als bisher anzubieten.
Um das überhaupt erreichen zu können, ist eine neue Kultur der Kooperation zwischen Wissenschaftlern der Grundlagenforschung, Entwicklern und Klinikern erforderlich. Alle Beteiligten stellt dies vor die Herausforderung, Fachgrenzen zu überwinden und aufeinander zuzugehen, um dann (vielleicht) zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. Eine wesentliche Grundlage dafür ist die Einschätzung, welche Erwartungen die künftigen Partner haben. Aus der subjektiven Sicht eines Chirurgen sollen die nachfolgenden Wünsche an Naturwissenschaftler/Ingenieur/Informatiker dargestellt werden.
Bereitschaft zur Zusammenarbeit
Ingenieurswissenschaften haben eine stolze Tradition. Entwicklungstechnische Kreativität und die sorgfältige Analyse von Anforderungsprofilen haben in fast allen Lebensbereichen zu unglaublichen Fortschritten geführt. Erfolge in der Medizintechnik sind schwieriger zu erreichen, weil hier ein besonderes Domänenwissen mit einbezogen werden muss, das sich Ingenieure nicht mehr so ohne weiteres aneignen können, wie es zum Beispiel in der Automobiltechnik oder anderen Industrien durchaus möglich ist.
Das entscheidende Problem besteht in dem nach wie vor großen Defizit an deklarativem Wissen speziell in der Chirurgie. Selbstverständlich gibt es eine Fülle von anatomischen Atlanten, chirurgischen Lehrbüchern mit genauen Handlungsbeschreibungen, OP-Videos und interaktiven CD-ROMs. Aber trotzdem reicht das alles nicht aus, um Nicht-Chirurgen ein wirklich tiefes Verständnis für die Besonderheiten der jeweiligen Eingriffe zu vermitteln. Das stellt sich erst allmählich ein, wenn man die ersten hundert, zweihundert oder zweitausend Eingriffe hinter sich gebracht hat.
Anspruchsvollere Entwicklungen für die Chirurgie sind deshalb nur selten erfolgreich, wenn sie nur in der CAD-Welt am Schreibtisch des Entwicklers ausgedacht werden. Ein sehr früher Austausch mit dem künftigen Anwender ist unbedingt empfehlenswert. Besonders aufschlussreich ist auch die persönliche Präsenz bei operativen Eingriffen, die Gegenstand der konkreten Entwicklung sind.
Dabei sollte man sich jedoch an Vertretern des Faches orientieren, die nicht nur einen besonderen Enthusiasmus für neue Technologien aufbringen und somit dem Ingenieur besonders sympathisch sind, sondern auch die erforderliche Kompetenz und Kritikfähigkeit aufbringen, die für eine objektive Beurteilung des Potentials von vermeintlichen Innovationen erforderlich ist.
Verständnis für ein andersartiges Fach
Maß und Zahl haben in der Chirurgie eine wesentlich geringere Bedeutung als in der Welt des Ingenieurs, weil fast alle Parameter nur eine relative und keine absolute Bedeutung haben: Ein Leukozytenwert von 14.000 kann ein Alarmzeichen sein, andererseits aber keinerlei Anlass zur Besorgnis bieten. Tumore werden häufig als pflaumengroß, frauenfaustgroß etc. bezeichnet.
Das Substrat, mit dem der Chirurg arbeiten muss, ist anders als das des Ingenieurs. Lebendes Gewebe bzw. ein lebender Organismus sind um Größenordnungen anspruchsvoller zu bearbeiten als eine artifizielle Umgebung. Denn jeder Mensch ist ein Unikat! Es gibt keine Lösung, die für alle Patienten passt.
Unterschiede überwinden
- Terminologie: In der Medizin wird eine spezifische Terminologie benutzt, die sich ganz erheblich von der Terminologie der Ingenieure und Informatiker unterscheidet. Seitens der Nichtmediziners muss daher eine gewisse Bereitschaft bestehen, sich mit dem zugegebenermaßen häufig unscharfen, komplizierten Sprachgebrauch auseinanderzusetzen, der sich auch aus dem Bemühen heraus entwickelt hat, das Expertenwissen nur für den Eingeweihten zu kodieren. Hier helfen nur der ständige Dialog und die aktive Klärung von Verständnisfragen.
- Tagesplanung: Speziell in der Chirurgie ist eine geregelte Planung des täglichen Arbeitsablaufs häufig schwierig, da sehr viele Imponderabilien eine Rolle spielen und die unmittelbare Krankenversorgung ja stets Vorrang vor allen anderen Aktivitäten hat. Es ist also durchaus nicht arrogant, wenn Chirurgen verabredete Termine nicht einhalten und Techniker warten müssen. Das liegt nicht selten an Notfällen.
- Projektorganisation: Erst allmählich entwickelt sich in der Chirurgie eine gewisse Kultur des evidenzbasierten Handelns mit einer sorgfältigen Studienplanung, strengen Untersuchungsprotokollen, exakter Dokumentation usw. Bei gemeinsamen Studien müssen die Partner von der naturwissenschaftlichen Seite dies berücksichtigen und auf eine angemessene Methodik achten. Chirurgie ist zudem nach wie vor weitgehend empirisch. Die Wahl der konkreten Vorgehensweise, die Verwendung bestimmter Instrumente usw. ist auch heute immer noch mehr geprägt durch die individuelle Ausbildung und Gewohnheit als durch evidenzbasierte Erkenntnisse.