Laborverfahren für personalisierte Medizin Das Gehirn in Atemnot – neues Diagnostikverfahren für akuten Hirnschlag
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Beim Lächeln hängt ein Mundwinkel, die Arme lassen sich nicht beide heben, das Sprechen fällt schwer – jetzt zählt jede Minute, denn dies sind die Anzeichen für einen akuten Hirnschlag. Um diesen möglichst differenziert zu behandeln, entwickeln Empa-Forscher ein neues Diagnoseverfahren, basierend auf Labortests von Blutgerinnseln.

Dübendorf/Schweiz – Eben noch schien alles normal, und von einem Moment auf den anderen ist die Blutzufuhr in ganze Gehirnareale blockiert: Wenn ein Gerinnsel ein Blutgefäß verschließt, ist die Sauerstoffversorgung der Nervenzellen unterbrochen und die Betroffenen erleiden einen akuten Hirnschlag. Der lebensbedrohliche Zustand kann sich ganz unterschiedlich äußern: Von Muskellähmungen über Ausfälle des Gehörs oder des Sehvermögens bis hin zur Bewusstlosigkeit. Immer eines ist klar: Es handelt sich um einen medizinischen Notfall, und die Zeitspanne, bis die Gefäßblockade behoben ist, muss so kurz wie möglich sein, um so viele Nervenzellen wie möglich vor dem Absterben zu retten. Nur so können bleibende neurologische Schäden verhindert werden.
Welche Behandlungsmethode hierfür am besten geeignet ist, ist in der gebotenen Eile nicht immer leicht zu bestimmen. Basierend auf Röntgenanalytik und Elektronenmikroskopie entwickelt ein Team der Empa, des Universitätsspitals Genf und der Klinik Hirslanden derzeit eine Methode, mit der sich die optimale Therapie innerhalb kürzester Zeit bestimmen lassen soll. Daten aus einer ersten, nun erschienenen Studie sollen die Grundlage für eine maßgeschneiderte Behandlung im Sinne der personalisierten Medizin schaffen.
Ein Notfall mit vielen Ausprägungen
Die unterschiedlichen Ausprägungen eines Hirnschlags liegen daran, dass Blutgerinnsel nicht gleich Blutgerinnsel ist: je nach Typus können darin verschiedene Zellarten miteinander verklumpen. Abhängig davon, ob rote oder weiße Blutkörperchen dominieren oder wie stark der Anteil von eiweißhaltigen Fibrinfasern ist, weist der Thrombus andere Eigenschaften auf.
Zudem unterscheiden sich die Thromben in ihrer Gestalt stark voneinander. Ein 15 Millimeter langer Thrombus, der ein Blutgefäß nicht ganz ausfüllt, hat andere mechanische Eigenschaften, als ein lediglich wenige Millimeter-kurzes Gerinnsel, das aber ein Gefäß komplett verstopft und die Blutzufuhr zu den dahinterliegenden Hirnarealen lahmlegt. Nach diesen Unterschieden richtet sich die optimale Behandlung, sei es die medikamentöse Auflösung des Gerinnsels oder das Verwenden eines so genannten Stent-Retrievers, eine Art winzige Angel, mit der sich der Thrombus aus dem Blutgefäß „herausfischen“ lässt, und dessen Material je nach Thrombus anders gewählt werden kann.
3D-Mikro-Tomographie einzelner Blutkörperchen
In der Radiologie setzt man derzeit auf herkömmliche Computertomographien, um eine therapeutische Entscheidung zu fällen. Allerdings ermöglichen die Bilder vom Kopf der Betroffenen kaum Aussagen über die Details eines Gerinnsels, da sich Objekte aus ähnlichem Material zu wenig voneinander unterscheiden und räumlich auflösen lassen. Im Klinikalltag muss man sich zudem mit Details zufriedengeben, die auf ca. 200 Mikrometer beschränkt sind.
Anders ist dies bei Laborverfahren, die die Schweizer Forscher innerhalb der neuen Studie einsetzten: Das Team unter Beteiligung von Robert Zboray, Antonia Neels und Somayeh Saghamanesh vom „Center for X-Ray Analytics“ der Empa hatte verschiedene Blutgerinnsel untersucht, die bei neurochirurgischen Eingriffen an Patienten entnommen worden waren.
Hierzu kombinierten sie verschiedene Labortechnologien, wodurch sich virtuelle 3D-Befunde mit detaillierten und bisher unbekannten Eigenschaften von Blutgerinnseln ergaben. „Wir haben einzelne rote Blutkörperchen mittels 3D-Mikro-Tomographie bis auf den Mikrometer genau durchleuchtet“, sagt Empa-Forscher Zboray. Derartige Tomographien mit Phasenkontrastverfahren erzeugen einen stärkeren Kontrast. Leicht zu durchdringende Objekte, wie etwa Muskeln, Bindegewebe oder Blutgerinnsel, können so in besonders feinen Nuancen und in ihrer räumlichen Ausbreitung dargestellt werden.
Weitere Technologien wie die Rasterelektronenmikroskopie und Röntgendiffraktions- und Röntgenstreuungsverfahren lieferten zusätzliche Informationen bis hin zu atomaren Strukturen. Hier zeigte sich erstmals, dass ein Thrombus nicht nur aus Blutzellen und Fibrinfäden besteht, sondern sogar mit Mineralien wie Hydroxylapatit durchsetzt sein kann, wie man es von Gefäßwänden bei der Arterienverkalkung kennt.
Zeitverzug ist noch eine Hürde für die Detail-Diagnose
Diese detaillierten Informationen aus den Laborversuchen zu den Eigenheiten eines Blutgerinnsels kommen jedoch zu spät, wenn der Thrombus bereits operativ entfernt worden ist. Zudem lassen sich die neu gewonnenen Daten nicht auf den ersten Blick mit den gewohnten Bildern und Befunden im Krankenhaus abgleichen. Die Digitalisierung in der Medizin ermöglicht es aber, die Daten so zu modellieren, dass ein Algorithmus in Zukunft die Detailinformationen auslesen könnte. „Hierzu müssen wir noch deutlich mehr Thromben untersuchen, damit wir über ‚Machine Learning‘ neue Merkmale und Bildmuster bezüglich der Zusammensetzung der Gerinnsel erkennen können, die sich dann auf Spitalbilder übertragen lassen und damit die Identifizierung von verschiedenen Thrombustypen erleichtern“, sagt Zboray.
Dann, so das Ziel der Forscher, ließen sich herkömmliche Krankenhausbilder in kürzester Zeit so interpretieren, als ob das Blutgerinnsel im Kopf in einem virtuellen Labor untersucht worden würde. Letztendlich ermöglicht dies für den Schlaganfall-Patienten rasch eine genauere und personalisierte Therapie.
Originalpublikation: S Saghamanesh, DD LaGrange, P Reymond, I Wanke, KO Lövblad, A Neels, R Zboray; Volumetric assessment of blood clot histology through high-resolution propagation-based X-ray microtomography; Scientific Reports 12, Article number: 2778 (2022); DOI: 10.1038/s41598-022-06623-8
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Dieser Artikel ist zuerst erschienen auf unserem Schwesterportal www.laborpraxis.vogel.de.
* A. Six, EMPA Eidgenössische Materialprüfungs- und Forschungsanstalt, 8600 Dübendorf/Schweiz
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