Handel Gefährden weltweite Lieferketten Wachstum und Versorgung mit Medizintechnik?
Keine Weihnachtsgeschenke, keine Chips, keine Medizintechnik – das kann passieren, wenn Produkte nicht auf Lager sind und sich Lieferungen verzögern. Fehlende Weihnachtsgeschenke unter dem Tannenbaum sind ärgerlich, aber wenn Medizintechnikprodukte verspätet oder gar nicht lieferbar sind, dann kann das gravierende Folgen haben. Wie bereitet sich die Medizintechnikbranche auf diese Problematik vor?
Anbieter zum Thema

Kauft man in dieser Zeit ein Fahrrad, ein Auto oder ein High-Tech-Gerät, dann ist Geduld gefragt: Lieferungen verzögern sich, Produkte sind nicht auf Lager und es kommt zu langen Wartezeiten. „Die Covid-19-Pandemie hat die Verwundbarkeit globaler Lieferketten und des Welthandels offengelegt und gezeigt, dass lokale Engpässe aufgrund der weltweiten Vernetzung große Auswirkungen auf die Verfügbarkeit von Produkten haben“, so Dr. Alexander Sandkamp, Juniorprofessor für Volkswirtschaftslehre an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Die globale Vernetzung bringt damit einige Probleme ans Licht: Wenn ein Auto später geliefert wird, ist das ärgerlich – aber wenn Medizintechnikprodukte verspätet oder gar nicht lieferbar sind, dann kann das gravierende Folgen haben. „Beschaffungsschwierigkeiten in den Lieferketten der Medizintechnik gefährden die Wertschöpfungskette der gesamten Branche. Der enge Austausch und das Netzwerken der Player ist deshalb essenziell“, erklärt Christopher Boss, Executive Director Exhibitions der Nürnberg Messe GmbH. Wie hat sich die Medizintechnikbranche auf diese Problematik vorbereitet und was hat sie bis jetzt daraus gelernt?
Was passiert, wenn Lieferungen ausbleiben oder verspätet ankommen?
Die Coronavirus-Pandemie kam und mit ihr wurde ein Land nach dem anderen in den Lockdown geschickt: Den Anfang machte China – ein Land, das nicht nur die Elektrogeräteindustrie beliefert, sondern auch in der Medizintechnik eine große Rolle spielt. Wichtige Produkte, deren Verfügbarkeit gerade mit dem Aufkommen der Pandemie unabdingbar wurde. Die Nachfrage nach Medizinprodukten war gestiegen und die Lieferfähigkeit fiel plötzlich weg. Die Folgen: Verheerend. Schutzausrüstung oder Beatmungsgeräte waren nicht nur Mangelware für den normalen klinischen Alltag, sondern auch schlichtweg überlebenswichtig für die Versorgung der Intensiv-Patienten. Nicht-Verfügbarkeit von Produkten führt zu enormen Schwankungen im Gesundheitssystem, die nicht mehr abpufferbar sind. „Aufgrund der hohen Qualitätsanforderungen und Regelungsdichte bestehen oftmals sehr enge und langjährige Beziehungen zwischen den Medizintechnikherstellern und deren Zulieferern“, erklärt Mike Bähren, Leiter Volks- und Betriebswirtschaft und Marktforschung bei Spectaris, dem deutschen Industrieverband für Optik, Photonik, Analysen- und Medizintechnik. Dadurch sei es schwierig, kurzfristig Produzenten zu wechseln. „Es entsteht ein Kampf um die Waren, die sowieso schon knapp sind. Dadurch kommt zu Geschäftsmöglichkeiten für neue Lieferanten, die aufgrund des hohen Bedarfs und fehlender Lieferfähigkeit etablierter Liefernetzwerke kurzfristig Zugang in den Markt bekommen, wodurch es zu einer Qualitätsverminderung kommen kann“, sagt auch Toni Drescher, CEO des INC Invention Centers, Umsetzungsdienstleister von Innovationsprojekten.
Wie gehen die Unternehmen mit Lieferproblemen um?
Mit den Engpässen der Medizintechnik stieg aufgrund der Corona-Pandemie auch der Bedarf. Einige Unternehmen haben in dieser Zeit ihr Produktportfolio erweitert oder angepasst, sie haben die Mangelware lokal produziert und somit die Engpässe ausgeglichen. Das war eine schnelle Reaktion des Marktes, die das Gesundheitssystem unterstützt hat. Doch ein nachhaltiger Markt wird das für die meisten Produzenten wohl nicht sein: „Wenn sich die Situation normalisiert, werden sich die meisten Unternehmen wieder auf ihre Kernkompetenzen zurückbesinnen, da auch die Nachfrage nach den Produkten sinkt“, so Sandkamp. „Diese Umorientierung wird nur dann von Dauer sein, wenn ein konkreter Businessplan dahintersteht“, ergänzt Drescher. Auch Bähren sieht dabei keine nachhaltige Veränderung: „Viele kleine Stellhebel werden genutzt, um die Produktion am Laufen zu halten. Kurzfristige Produktanpassungen sind gerade in der Medizintechnik aufgrund der umfangreichen Bestimmungen immer eine Herausforderung und daher kein Generalschlüssel zur Lösung von Lieferkettenschwierigkeiten.“ Doch durch die neuen Player kommen auch neue Geschäftsmodelle und Ideen auf den Markt, wovon die Unternehmen lernen und profitieren können, damit Lieferprobleme und Engpässe in Zukunft vorgebeugt werden können. „Da viele Bereiche im Gesundheitswesen budgetgesteuert und von einem hohen Kostendruck gekennzeichnet sind, brauchen Veränderungen oftmals viel Zeit“, so Bähren.
Welche Lösungen wurden gefunden?
Die aktuellen Lieferketten sind bereits eingeschränkt, eine kurzfristige Verbesserung der Lage ist nur bedingt möglich. Damit es mittel- bis langfristig nicht zu schwerwiegenden Problemen durch Lieferverzögerungen oder Ausfällen kommt, müssen Vorkehrungen getroffen und die Strukturen resistenter werden. Das funktioniert laut Sandkamp über drei Faktoren: „Diversifizierung, Lagerhaltung und Recycling. Es ist wichtig, dass sich Unternehmen breit aufstellen, sich nicht abhängig machen von einzelnen Lieferanten, sondern Produkte von verschiedenen Produzenten aus verschiedenen Ländern beziehen.“ Diese Entwicklung hat ihren Preis. „Das führt zwar zu höheren Kosten, dafür werden Lieferketten resilienter und krisenfester, was besonders für die Medizintechnikbranche essenziell ist. Das wird sicherlich auch bei der Medtec Live with T4M im Mai 2022 ein großes Thema sein“, so Boss. In der Lagerung Puffer einzubauen und nicht mehr just-in-time zu ordern ist kostenintensiv aber lohnenswert, damit es nicht zu eklatanten Engpässen bei für den Menschen lebensnotwendiger Produkte kommt. Welche Rolle kann Recycling hier einnehmen? „Bei der Verlagerung der Produktion nach Europa hört der Spaß auf, wenn Rohstoffe nicht vorhanden sind. Diese Abhängigkeiten können reduziert werden, indem man auf Recycling zurückgreift“, erklärt Sandkamp.
Toni Drescher sieht notwendige Vorkehrungen vor allem auch in der Planung: „Wichtig ist eine Analyse der Systemrelevanz durchzuführen. Die Frage, die man sich stellen sollte, ist: Welche Produkte sind wirklich lebensnotwendig? Der Krisen-Notfallplan muss diesbezüglich überprüft und angepasst werden.“ Auch er plädiert für eine Multi-Supplier-Struktur für resiliente Lieferketten, die in einer Notlage schnell hochgefahren werden können und über Produktionslizenzen gesichert sein sollten. Der goldene Mittelweg zur Planung und Strukturierung der Lieferketten ist eine gesunde Mischung aus globalen und lokalen Lieferanten sowie das Verwenden von digitalen Lösungen und künstlicher Intelligenz. „Da die Digitalisierung des Gesundheitswesens massiv an Fahrt gewonnen hat, spielen elektronische Komponenten auch bei Medizinprodukten eine immer wichtigere Rolle. Die aktuelle Knappheit in diesem Bereich trifft die Branche daher wie viele andere Industrien auch sehr massiv“, sagt Bähren.
Eine Abschottung, das Unabhängigmachen von anderen Ländern, sei dafür keine Lösung: „Das würde dazu führen, dass wir auf keine anderen Händler ausweichen können und die Kosten steigen. Außerdem ist die Produktion ineffizient, wenn die Spezialisten mit ihren Ressourcen in anderen Ländern sitzen“, so Sandkamp. Was es stattdessen bräuchte, ist für Drescher deutlich: „Man muss in die Fähigkeiten, in die Kompetenzen im Gesundheitssystem und Einkauf investieren, damit Lieferketten kostenorientiert, stabil und nachhaltig gestaltet werden können.“ Der Branche sei knallhart aufgezeigt worden, wo die Schwachstellen sind. Wie damit umgegangen werde, sei eine Frage der Zukunft. „Auch dafür wollen wir gemeinsam bei der Medtec Live with T4M Lösungen finden“, so Boss.
Was hat die Branche gelernt?
Dass Lieferkettenproblemen vorgebeugt werden muss, weil damit gravierende Folgen einhergehen, hat die Corona-Pandemie in den letzten zwei Jahren verdeutlicht. Der Ausbruch eines weltweiten Virus ist aber nur eine von vielen Gründen, weshalb es zu Engpässen in der Versorgung kommen kann. Auch bei Naturkatastrophen oder Kriegen müssen die Lieferketten in der Medizintechnikbranche gesichert sein. Wird auf Grundlage dieser aktuellen Erfahrungen umstrukturiert? „Leider nicht“, erklärt Drescher, „man kann bereits zwischen den pandemischen Wellen sehen, dass die meisten Unternehmen leider auf die gleichen Strukturen wie vor der Pandemie zurückgreifen.“ Das kann am Ende des Tages Menschenleben riskieren. Sandkamp jedoch sieht im Markt ein vorsichtiges Umdenken: „Die Handelsaktivität ist wieder auf Vorkrisenniveau und einige Unternehmen haben bereits begonnen zu diversifizieren, sich also breiter aufzustellen. Allerdings haben wir keine Verlagerung der Produktion festgestellt.“ Bähren erklärt: „Vorhandene Beschaffungswege und die Bindung zwischen den Herstellern und ihren Bestandslieferanten stehen daher nicht auf dem Prüfstand, auch wenn vielleicht stärker als früher nach Zweit- oder Drittlieferanten Ausschau gehalten wird, um Beschaffungsrisiken zu minimieren.“
Wie sich die weltweite Gesamtsituation der Branche entwickelt, ist noch nicht gewiss. Schwankungen in der Verfügbarkeit von Produkten und Lieferengpässen werden bis in das erste Quartal des Jahres 2022 erwartet. Christopher Boss: „Wir müssen die Erfahrungen sammeln, teilen und auch auf der Medtec Live with T4M im persönlichen Austausch diskutieren wie innovative Strukturen geschaffen werden, um den Markt gemeinsam zu stärken.“
Weitere Meldungen aus der Medizintechnik-Branche und über Medizintechnik-Unternehmen finden Sie in unserem Themenkanal Szene.
(ID:47887602)