Biokompatibilität Petrischale statt Kaninchen: Irritationstests ohne Tierversuche
Die für die biologische Beurteilung von Medizinprodukten zentrale ISO-Normenreihe 10993 wurde im Januar 2021 um den Teil 10993-23 ergänzt. Dieser enthält erstmals validierte Methoden für die In-vitro-Prüfung auf Irritationen. Dadurch können Hersteller ihre Produkte ohne Tierversuche prüfen.
Anbieter zum Thema

Um Anwender und Patienten nicht zu gefährden, müssen Hersteller die Biokompatibilität ihrer Medizinprodukte prüfen. Dies geben Regelwerke wie die Medizinprodukteverordnung (MDR) vor. Dazu mussten und müssen Hersteller und Prüflabore bisweilen auch auf In-vivo-Prüfmethoden, d. h. Prüfungen im lebenden Objekt, zurückgreifen.
So entfielen laut dem Bundesinstitut für Risikobewertung im Jahr 2020 rund 19 Prozent der in Deutschland durchgeführten Tierversuche auf den Bereich Herstellung und Qualitätskontrolle von medizinischen Produkten. Teile der ISO-10993-Reihe und das deutsche Tierschutzgesetz schreiben jedoch vor, dass Tierversuche nur zulässig sind, wenn es keine zuverlässige alternative Methode gibt.
Validierte Verfahren in der Petrischale
Die Normenreihe ISO 10993 (Biologische Beurteilung von Medizinprodukten) bestand bis Ende 2020 aus insgesamt 21 Teilen und wurde im Januar 2021 um die ISO 10993-23 (Prüfung auf Irritationen) ergänzt. Dieser Teil wurde aus der ISO 10993-10 ausgegliedert, die seit Ende 2021 ausschließlich bei Prüfungen auf Sensibilisierungen anwendbar ist.
Die wichtigste Neuerung der ISO 10993-23 ist, dass nun erstmals Verfahren für In-vitro-Irritationstests definiert werden. Diese können in vielen Fällen Tierversuche ersetzen. Tests in der Petrischale waren zwar auch zuvor bekannt, aber nicht ausreichend validiert. Während extrahierte Inhaltsstoffe des Medizinprodukts bisher oftmals subkutan in die Haut von Kaninchen injiziert wurden, können nun Prüfungen auf Irritationen auch an rekonstruierter menschlicher Epidermis (RhE – reconstructed human epidermis) erfolgen.
RhE-Modelle und ihre Möglichkeiten
RhE wird aus menschlichen Keratinozyten gewonnen und ist von verschiedenen Herstellern in unterschiedlichen Differenzierungsgraden kommerziell erhältlich. Die durch Kultivierung gewonnene rekonstruierte humane Epidermis ist vollständig ausgebildet, grundsätzlich lebensfähig und morphologisch der natürlichen humanen Epidermis sehr ähnlich – inklusive Dorsal-, Basal- und Granularschichten. Zusammen mit der oberen Hornschicht schützt das Gewebe den Organismus vor dem schnellen Eindringen toxischer Substanzen.
Für die Prüfung auf Irritationen wird das Testextrakt mit dem Farbstoff MTT, einem gelben Tetrazoliumsalz, auf das RhE-Modell aufgebracht und inkubiert. Die Bestimmung des prozentualen Anteils an lebenden Zellen mithilfe eines MTT-Tests beruht auf der Reduktion des gelben Farbstoffs in den Mitochondrien zum blau-violetten Formazan. Die Farbänderung wird mittels UV/VIS-Spektroskopie quantifiziert und in einen Wert für die Zellviabilität umgerechnet. Sinkt dieser unter einen definierten Schwellenwert, i. d. R. 50 Prozent, gilt der Prüfstoff als hautirritierend. Voraussetzung für die In-vitro-Methode ist, dass die untersuchten Substanzen mit polaren oder unpolaren Lösungsmitteln extrahiert werden können. Für feste, nicht lösliche Substanzen ist der Test nicht validiert.
Von einer In-vitro-Prüfung profitieren nicht nur der Tierschutz, sondern auch Hersteller und Prüflabore. Denn die im Vergleich zur Kaninchenhaut schnelleren Zellreaktionen im RhE-Modell ermöglichen kürzere Testzeiten. Die Anmeldung und Genehmigung der Tierversuche entfallen ebenso wie die Kosten und der Aufwand für die Beschaffung, Unterbringung und Versorgung der Tiere.
Risikoanalyse in vier Schritten
Schritt 1: Bevor die Entscheidung über die anzuwendenden Prüfmethoden fällt, müssen alle Stoffe des Medizinprodukts sowie am Produkt anhaftende Prozesshilfsmittel oder bei der Herstellung verwendete Zusatzstoffe gemäß ISO 10993-18 bestimmt und charakterisiert werden. Dazu muss eine analytische Bewertungsschwelle (analytical evaluation threshold, AET) definiert und eingehalten werden. In Europa überprüfen das die benannten Stellen. Der AET-Wert ist ein Indikator, ab wann eine toxikologische Risikobewertung vorgenommen werden muss.
Schritt 2: Es folgt eine Recherche zu den in der wissenschaftlichen Literatur beschriebenen chemischen und physikalischen Eigenschaften sowie dem Irritationspotenzial der in Schritt 1 identifizierten Inhaltsstoffe. Durchführung und Dokumentation der Recherche beschreibt die ISO 10993-17. Zur Beurteilung können Datenbanken und Ergebnisse früherer Untersuchungen herangezogen werden. Für Stoffe, zu denen keine validen Informationen zur Risikobewertung gemäß den Vorgaben der ISO 14971 vorliegen, helfen Datenbanken, die auf computergestützten Daten basieren.
Schritt 3: Es wird geklärt, ob für diese verbleibenden Stoffe eine In-vitro-Methode zur Bestimmung des Irritationspotenzials anwendbar ist. Nur wenn dies nicht der Fall ist, sind in Schritt 4Untersuchungen am lebenden Organismus in Betracht zu ziehen.
Fazit und Ausblick
Nach vorangegangener Validierung der RhE-Modelle für die Gefahrenermittlung von Chemikalien durch die OECD ist diese Methode durch die Norm ISO 10993-23 auch bei der Prüfung von Medizinprodukten auf deren Irritationspotenzial anwendbar. So können Hersteller und Prüflabore bereits heute in vielen Fällen Tierversuche durch In-vitro-Prüfungen ersetzen.
Dies gilt jedoch nicht für Sensibilisierungsprüfungen nach ISO 10993-10. Eine Novelle dieser Norm ist erst in den nächsten Jahren zu erwarten. Unabhängige Prüflabore wie TÜV Süd können Hersteller jedoch dabei unterstützen, alle regulatorischen Anforderungen mit einem Minimum an Tierversuchen zu erfüllen und Verzögerungen bei der Zulassung aufgrund von fehlenden Daten auf ein Mindestmaß zu reduzieren.
Weitere Artikel zu regulatorischen Angelegenheiten finden Sie in unserem Themenkanal Regulatory Affairs.
(ID:48108078)